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Warum erwachen auch in Europa Religionen immer wieder neu

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Warum erwachen auch in Europa Religionen immer wieder neu

Seit Jahrhunderten sollten im westlichen Europa die Religionen verschwinden. Vom Niedergang und Untergang der Religionen war die Rede, vom Tode Gottes und seiner Diener, dann auch von Säkularisierung und Privatisierung des Religiösen, von Trennung von Kirche und Staat, von Atheismus und Laizismus, von Christenverfolgung und Unterdrückung der Religion... und in letzter Zeit besonders in Frankreich von der « sortie de la religion ».

Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft, aus der die Religionen zu verschwinden hätten, heißt es. Sie passten nicht mehr in das moderne Weltbild. Dieses sei vom wissenschaftlichen Denken geprägt, und Religionen seien hier als Illusionen zu entlarven. Es hieße also Schluss mit ihnen zu machen und die Menschen endlich richtig aufzuklären, damit sie in Freiheit und Verantwortung ihr Leben gestalten könnten, ohne Rückgriff auf einen Gott, der sie in eine menschenunwürdige Abhängigkeit führe. Ihr Leben hier unten sollten die Menschen nun selbst in die Hand nehmen, und ein anderes Leben gebe es nicht. Sie müssten sich endlich als endliche Wesen begreifen und sich keine Scheinwelten im Jenseits einbilden.

Somit ist in den westlichen Gesellschaften allgemein Diesseitsvertröstung angesagt, und der Glaube an ein ewiges Leben bei einem transzendenten Gott sei passé.   

Sicher ist es nicht zu bestreiten, dass die kirchlichen Gemeinschaften in den letzten Jahrzehnten Mitglieder verloren haben und die Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher, nicht nur unter Jugendlichen, abgenommen hat.   

Genauso richtig aber ist es auch, dass die Religionen trotzdem nicht aus unsern Gesellschaften verschwinden, und dass nach jeder Todesanzeige des Religiösen, Religion sich neu zu Wort meldet. Ob man das nun „Wiederentdeckung“ des Religiösen oder „Wiederkehr“ des Glaubens nennt, „ré-enchantement du monde“ oder „retour des religions“, spielt dabei keine Rolle.

Mehrere Studien befassen sich damit, herauszufinden, warum dem so ist, warum Religionen nicht einfach verschwinden, da doch erwiesen sein soll, dass sie Täuschung oder gar Lüge wären.

Wie ist es möglich, dass immer wieder Menschen, auch kluge, sich neu für Religion interessieren, und dass ehemals überzeugte Atheisten sich zu einem erneuerten Gottesglauben hinreißen lassen?

Warum sterben die Religionen nicht einfach aus, wie es von einigen seit mehr als 400 Jahren in Europa erwartet und ersehnt wird? Warum gibt es immer wieder Menschen, die sich als religiös bezeichnen und weit davon entfernt sind, ihre Glaubensgemeinschaft als altmodisch und überlebt abzutun? Warum misslingt beständig der endgültige Ausschluss des Religiösen? Warum erwacht, auch in Europa, das Religiöse immer wieder neu?

Auf drei verschiedene Antwortversuche soll hier kurz hingewiesen werden.

 

„Glaubst du noch an Gott, oder weißt du schon um deine sinnlose Endlichkeit?“  

In einem ersten Antwortversuch heißt es, dass das endgültige Verschwinden der Religionen aus den modernen Gesellschaften unaufhaltbar sei, da Religion mit dem neuen wissenschaftlichen Weltbild unvereinbar sei, dieses aber sich mit Sicherheit endgültig durchsetzen werde. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann der definitive Auszug der Religionen aus den modernen Gesellschaften und dann auch später aus der Menschheit schlechthin stattfinde. Das sogenannte Wiedererwachen des Religiösen ist wohl nicht zu leugnen, aber es sei nur in traditionalistischen Kreisen und unter Fundamentalisten festzustellen, die sich der modernen Welt verschließen, selbstbewusst, ja sogar gewalttätig, aber auf längere Zeit ohne Aussicht auf Erfolg. Die modernen Errungenschaften und ihr Aufklärerpotential seien nicht rückgängig zu machen. Dem modernen Europa genüge diese, unsere Welt, Platz für einen transzendenten Gott und ein Leben nach dem Tode gebe es hier keinen mehr. Religion wird sicher einige Zeit  unter Gestrigen noch weiterbestehen, beziehungsweise neu aufleben, aber ihr endgültiges Verschwinden sei nun einmal nicht aufzuhalten.

Wenn Religion demnach noch nicht sofort verschwindet, dann nur deshalb, weil sich verschiedene Menschen der Absurdität der Welt verschließen und alten Zeiten nachtrauern: ihnen fehlt der Mut, ihre sinnlose Endlichkeit tapfer anzunehmen. „Glaubst Du noch an Gott, oder weißt Du schon um deine sinnlose Endlichkeit“, so müsste man sie auffordern, endlich von ihrer Religion Abschied zu nehmen.   

Gemäß diesem ersten Antwortversuch sind die Vereinigten Staaten von Amerika in diesem allgemeinen Verschwindungsprozess des Religiösen eine Ausnahme. Dort wären aus historischen Gründen moderner Lebensstil und Religion vereinbar, und letztere behalte in dieser Ausnahmesituation ihren vollen Wert und würde anders als in Europa nicht verschwinden.  

Kritiker bemerken, dass in vielen asiatischen und afrikanischen Ländern eher dieses amerikanische Modell als das europäische richtungweisend sei. Obschon diese Länder sich die Errungenschaften der europäischen Moderne aneignen, seien sie weit davon entfernt, ihre religiösen Wurzeln auszureißen und Religionen aus ihren Kulturen verschwinden zu lassen. Wäre es also nicht angemessener von einer europäischen Ausnahme zu sprechen und eine andere Antwort auf die Frage zu suchen, warum denn in Europa trotz mehrfacher Ankündigung, Religionen nicht endgültig verschwinden? Der zweite hier vorgestellte Antwortversuch geht in diese Richtung.

 

„Glaubst du noch an den lebendigen Gott, oder bist du schon sein Erbe geworden?“

Wenn Religion immer wieder erwacht, auch in den modernen säkularisierten Gesellschaften Europas, dann ist der Grund dafür, dass ihr endgültiges Verschwinden durch den atheistischen Fundamentalismus der europäischen Moderne nicht gefördert, sondern verhindert wird.

Der europäische Atheismus habe das Religiöse grundsätzlich missverstanden, indem er Religion nur als Illusion begriffen habe. Es bleit ihm lediglich ein Menschenbild, das alle Ideale entmystifiziert und nur sinnlose Endlichkeit zurückbehaltet. Somit werde in der europäischen Moderne der angestrebte Ausschluss der Religion selbst sinnlos und perspektivlos. Er könne nichts zu einer postreligiösen Neugestaltung der Menschheit beitragen, und so wenden sich die klügeren unter den modernen Menschen wieder den Religionen zu, solange ihnen nichts Besseres angeboten wird. Dies ist, dem zweiten Antwortversuch nach, der Grund dafür, warum Religion auch im säkularisierten Europa nicht nur unter den ewig Gestrigen, sondern überall und besonders unter den intelligenteren Menschen immer wieder neu erwache.

Andererseits scheint die europäische Moderne Recht zu haben, wenn sie behauptet, dass sich die Menschheit nur dann weiterentwickeln kann, wenn Religionen endgültig aus ihr verschwinden. Insofern hätte die moderne europäische Aufklärung in ihrem Kampf gegen das Religiöse ein richtiges Ziel gehabt. Nur konnte sie dieses Ziel nicht erreichen. Das Religiöse kann nämlich nur dann endgültig verschwinden, wenn die Religionen  ihren Auftrag vollständig erfüllt haben. Es geht also darum, klarer als die europäische Moderne die Religionen richtig zu bewerten, und ihr Positives, nicht einfach als Illusion zu verwerfen, sondern in das Werden der sich neu gestaltenden Menschheit einzubringen. Da die europäische Moderne in ihrem absurden Atheismus Religion nur als Illusion, Betrug und Lüge verstand, hätte sie auch nichts mehr in den heutigen Werdeprozess der Menschheit einzubringen. Durch ihre Fehleinschätzung der Religion hätte sie diese nicht verschwinden tun können, und müsste so selbst endgültig verschwinden. Neue Chancen, Religionen anders zu verstehen und dann endgültig auszuschließen, hätten dagegen heute andere Kulturkreise.

Wie der Islam zum Bespiel: er habe das Potential, nicht gegen die Religionen, wie die europäische Moderne, sondern mit ihnen ihren eigenen Ausschluss zu gestalten.  In seinem Buch „Comment sortir de la religion“ gibt Abdennour Bidar interessante Gedanken zu diesem anderen Ausschluss des Religiösen mit Hilfe des Islams. Was die atheistische europäische Moderne gegen das Christentum nicht erreicht hat, das könnte der islamischen Kultur mit der islamischen Religion vorbildlich für alle anderen gelingen: Religion endgültig zu beseitigen, aber nur, indem zuerst ihr positiver Wert anerkannt und aufgehoben wird für die ansetzende Neugestaltung der Menschheit ohne Gott.

Hier wird also eine andere Art der Säkularisierung und des Religionsausschlusses vorgeschlagen, in der Überzeugung, dass die Entwicklung der Menschheit nur dann möglich sei, wenn die Religionen verschwinden. Diese aber können nur verschwinden, wenn ihr Eigentliches für die Menschheitsentwicklung aufgehoben wird. Andernfalls werden sie immer wieder erwachen.

Warum bis jetzt ein endgültiges Verschwinden der Religionen nicht stattfinden konnte, wird also klar: die europäische Säkularisierung hatte das Ideal, das die Religionen in Götter, bzw. in Gott projizierte, einfach als Illusion missverstanden, anstatt es positiv als objektiviertes Ideal der Menschheitsentwicklung zu deuten.

Gelinge es, entgegen dem europäischen Atheismus, das Religiöse positiv zu verabschieden und die Menschheit mit den Idealen der Religionen zu beerben, dann und erst dann könnten der Glaube an einen transzendenten Gott und die damit verbundenen Religionen endgültig verschwinden.

Dieser zweite Antwortversuch auf die Frage nach dem Grund der beständigen Wiederkehr des Religiösen bezieht sich nicht auf Gestrige, die Religion vorerst nicht lassen wollen, sondern auf das Fehlverhalten der europäischen Moderne selbst, deren religionsfeindlicher Atheismus es nicht verstanden hat, die Menschheit mit dem Positiven der Religionen zu beerben.

Im Koran heißt es, dass die Menschen Allahs Kalifen werden müssen. Und Kalif bedeutet Erbe. Hier ist ein neuer Weg vorgezeichnet, der besser als die europäische Moderne, die Religionen verabschieden könnte. Spricht der Islam von Erben Gottes, dann deutet er damit auch Gottes Tod an. Aber dieser Atheismus endet nicht in der Absurdität der menschlichen Endlichkeit, sondern beerbt die Menschheit mit dem positiven Ideal, das in religiösen Zeiten Gott gehörte. Der Islam hätte somit bessere Voraussetzungen für ein geglücktes Verschwinden der Religionen. Er hebe verantwortungsbewusst das religiöse Ideal auf und mache es für die Entwicklung der Menschheit fruchtbar.

Der große Denker Mohammed Iqbal hat in diesem Sinne zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Wort Nietzsches vom Tode Gottes islamisch bedacht. Anders als die modernen europäischen Anhänger Nietzsches hat er es vermieden, die Menschheit an die Endlichkeit zu fesseln und in die Sackgasse eines absurden sensualistischen Materialismus zu führen. Auf ihn und seine Gedanken heißt es zurückzukehren, damit der Ausschluss der Religion endgültig gelinge. 

 

„Glaubt du noch an Gott, oder hast du schon zu denken aufgehört?“   

Die zwei ersten Antwortversuche sind mit der Grundthese einverstanden, dass das Religiöse und die Religionen endgültig zu verschwinden haben, soll die Menschheit sich weiter entwickeln können. Das immer wieder Erwachen der Religionen ist ihnen somit ein Zeichen, dass die Entwicklung der Menschheit noch nicht genügend oder schlecht vorangekommen ist.

Ein dritter Antwortversuch auf die Frage, warum das Religiöse immer wieder erwacht, geht in eine andere Richtung. Er sieht in dem beständigen Neuerwachen des Religiösen eher einen Hinweis darauf, wie wesentlich für die Menschheit und für die Menschen Religion und Glaube an einen transzendenten Gott sind.

Wenn Religionen nicht aus der Menschheit verschwinden, sondern immer wieder neu erwachen, dann ist das nicht, weil es noch Gestrige gebe, die sich an Religion klammern, auch nicht, weil der Weg noch nicht gefunden wäre, Religionen endgültig zu verabschieden, sondern eher weil Religionen nicht verschwinden dürfen und nicht verschwinden können, solange es Menschen gibt.

Religion gehört zum Menschen als Menschen, nicht wegen ihrer Glaubensdimension, sondern wegen ihrer Denkdimension. Der Mensch ist nicht von Natur aus religiös, in dem Sinne, dass der religiöse Glaube wesentlich zum Menschsein gehöre. Glaube ist und bleibt Gnade und entbehrt somit aller Notwendigkeit. Denken dagegen gehört wesentlich zum Menschsein. Sogar wenn das Denken als zweitrangig eingestuft oder als graue Theorie abgewertet wird, so geschieht das in einem theoretischen Denkakt. Theorie aber hat eine ihr eigene Dynamik, die auf eine Gesamtschau alles Seins angelegt ist. Weder eine theologische, noch eine atheistische Dogmatik kann den Menschen so an Endlichkeit und Begrenztheit fesseln, dass jedes Weiterforschen zum Stillstand kommen könne, ohne auf eine Sicht des Weltganzen aus zu sein.

Wenn Religion immer wieder, auch und besonders in ideologisch begrenzten Milieus, wie die europäische atheistische Moderne, neu erwacht, dann deshalb, weil sie in ihrer Denkdimension eine Sicht des Ganzen anbietet, die den Klügeren nicht als Irrweg erscheint.

Wenn der Mensch seinem Wesen nach auf eine Gesamtschau des Seins aus ist, wird er sich nicht mit dem an sinnlose Endlichkeit gebundenen theoretischen Flickwerk eines religionsfeindlichen Atheismus zufrieden geben können. Die europäische Moderne, die keine Gesamtschau des Seins mehr zustande bringt, könnte wohl eine Alternative zur Glaubensdimension der Religionen anbieten, nie aber einen Ersatz für deren Denkdimension. Und deshalb werden Religionen nie endgültig durch atheistische Aufklärung verschwinden. Das hat nichts mit überlebenden Gestrigen zu tun, auch nichts mit falschen Methoden des Religionsausschlusses, sondern einzig und allein mit dem Theorieanspruch des Menschen, der nur dann befriedigt werden kann, wenn auch von Gott die Rede ist.

Denn eine Gesamtschau des Seins kann Gott nicht ausschließen, wie neuere wissenschaftstheoretische Gottesbeweise zeigen. Wird Gott aus den Wissenschaften und der Philosophie ausgeschlossen, dann bleiben nur noch die Religionen, um eine dem theoretischen Anspruch des Menschen mehr oder weniger entsprechenden Sicht des Weltganzen zu entwerfen.

Solange es denkende Menschen, also Menschen gibt, solange wird es Religionen geben.  

Diese haben mit ihrer Glaubensdimension eben diese Denkdimension, in der eine Gesamtschau des Seins und dessen Grund entworfen ist. Beide Dimensionen bedingen sich gegenseitig, auch wenn Glaube nicht auf Denken reduziert werden kann. In ihrer Denkdimension entsprechen Religionen dem, was der Mensch von sich aus sucht. Und dies ist der wahre Grund, weshalb sie nie aus der Menschheit verschwinden, auch wenn ihre Denkdimension stets verbesserungsbedürftig bleibt.   

So wie das Wissen nicht ohne Grund sich gestalten kann, dieser aber sich in den Wissenschaften immer wieder entzieht, „retrait du fondement“ wie Jean Ladrière sich meisterhaft ausdrückt, so kann Glauben nicht ohne Religion sich gestalten, auch wenn diese in ihrer Denkdimension die Gesamtschau nie voll und ganz zum Ausdruck bringen kann.

Wenn dem so ist, können und müssen gewisse Religionsformen verschwinden, ein endgültiges Verschwinden der Religionen selbst aber ist aussichtslos. Es könnte erst dann stattfinden, wenn die Menschen endgültig zu denken aufhörten. Dafür aber müsse der Mensch als Mensch verschwinden.

P. Jean-Jacques Flammang SCJ

Beitrag erschienen in "Heimat und Mission" 1/2012

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